NAZI~LINE FACTS.CH INTERVIEW MIT SCHLINGENSIEF

Provokation ist Mode, und er gilt als ihr Meister: Christoph Schlingensief. Sein für Zürich geplanter «Hamlet» sorgt schon im Voraus für Wirbel.

Von Daniel Arnet und Judith Wyder (Interview) und Tom Haller (Fotos)

Herr Schlingensief, Sie sehen zerzaust aus. Sind Sie eben erst aufgestanden?

Christoph Schlingensief: Nein, ich komme gerade von der Probe. Zudem wasche ich meine Haare nicht so oft wie andere Regisseure. Meine Haare sind eine Art Barometer: Stehen sie hoch, kann es Spannung geben. Liegen sie an, wird gegrübelt.

Facts: Das heisst: So wie die Haare stehen, so geht es Christoph Schlingensief?

Schlingensief: Meine Freunde schauen mir wirklich auf die Haare. Bei meinem Vater kann man das nicht mehr sehen, weil er keine Haare mehr auf dem Kopf hat. Da muss man immer nachfragen, wie es ihm geht.

Facts: Nachfragen muss man auch bei den Skinheads, die in Ihrer «Hamlet»-Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus auftreten werden. Muss man sich vor rassistischen Übergriffen fürchten?

Schlingensief: Von welcher Seite meinen Sie? Wenn Skins die Wände besprayen, dann kann ich nichts machen. Ich begreife mich selber nicht als Rassisten, ich falle auch keine Leute an.

Facts: Die Schweizerische Volkspartei hat im Zürcher Gemeinderat angefragt, was unternommen wird, damit es in Ihrer «Hamlet»-Inszenierung nicht zu «antisemitischen oder rassistischen Provokationen» komme.

Schlingensief: Ja, das war eine grosse Dummheit der SVP. Ich habe hier einen ganzen Ordner nur über die SVP: «Die Europa-Politik der SVP», «Die sieben Geheimnisse der SVP», «Albisgüetli-Rede». Sehr interessant. Wenn die mir Rassismus vorwerfen, dann ist das ein billiger Ablenkungsversuch von ihren eigenen Inhalten.

Facts: Die SVP will Sie mit dieser Interpellation provozieren. Sie hat Ihre Tricks abgeschaut.

Schlingensief: Wenn die Partei von mir lernen will, dann bekommt die auch eine Belohnung dafür. Das ist eine Aufforderung zum Tanz.

Facts: Ein Pas de deux mit der SVP?

Schlingensief: Wir tanzen gemeinsam, wenn auch in andere Richtungen.

Facts: Und nicht immer im Takt.

Schlingensief: Auf alle Fälle nicht.

Facts: Und sie treten sich auf die Füsse.

Schlingensief: Die SVP hat zu wenig Gespür, um zu merken, dass ihre Politik nur billiges Theater ist. Sie warnt vor Rassismus auf der Bühne und bemerkt gar nicht, dass sie Rassismus auf der Strasse zeigt. Sie vergisst, dass sie in der Realität Theater spielt, und das ist unverzeihlich.

Facts: Provozieren will offenbar jeder: Politiker, Regisseure, Popstars, Werber. Es ist heute trendig zu provozieren.

Schlingensief: Vielleicht hier in der Schweiz. Seit 1968 ist Provokation schon lange kein ernst zu nehmendes Thema mehr. Was die Modekette Benetton in ihrer Werbung gemacht hat, war ein billiges Zitat. Die Kondom-Werbung war auch immunisierend; was der Papst macht, indem er sagt, man solle trotz höchster Aidsrate in Afrika keine Kondome verwenden, ist Dummheit. Das ist ein grundlegendes Übel der Gesellschaft, dass sie auf «Provokation» angewiesen ist, um sich selber zu überprüfen und auf sicher zu gehen, dass sie noch in Bewegung ist. Provokation ist für mich ein langweiliges Medium.

Facts: Das sagen ausgerechnet Sie!
Schlingensief: Ja, das sage ich! Ich bin Sohn eines Apothekers, und da habe ich gelernt, dass man sich mit Miniportionen Gift selber heilen kann. Also mit Selbstprovokation. Selbstprovokation ist ehrlich und gefährlich. Wer sich selbst provoziert, stellt sich selber die Frage, ob er noch da ist oder nicht, und wie viel Reiz das Leben noch bringt.

Facts: Selbstprovokateur Schlingensief: Das ganze Theater nur für Sie selber?

Schlingensief: Ich arbeite immer im Team, aber das Prinzip der Selbstprovokation ist genau das, was ich in die Marktwirtschaft einführen will. Ich will, dass man nicht wie ein Kleinaktionär vor der Börse sitzt und sagt: «Ach, jetzt bin ich überrascht, dass alles crasht.» Die Börse ist nämlich nur ein Ding für Selbstzweifler. Jetzt muss man den Selbstzweifel als Produktivkraft benutzen, genauso wie den Schmerz.

Facts: Sie können Schmerz produktiv umsetzen. Doch die meisten ziehen sich ins Schneckenhaus zurück.

Schlingensief: Ich sage ja nicht, dass ich in der Lage bin, Gesellschaftssysteme zu verändern. Ich bin in der Lage, Schwachstellen zu erkennen. Wenn Schmerz Bestandteil der Marktwirtschaft ist, muss man ihn einführen, und das kann man am besten, wenn man der Marktwirtschaft sagt: «Wenn du schon Schmerz produzierst, dann benutze ihn, mache Geld daraus.»

Facts: Aber Sie sind mit diesem Rezept nicht reich geworden.

Schlingensief: Ich habe auf meinem Konto minus 15 000 Mark. Das liegt daran, dass ich in meine Projekte investiert habe und mich nicht an ihnen bereichern wollte. Es wäre grossartig, mal einen reichen Sponsor zu finden, der uns unterstützen würde, und nicht nur die Börse.

Facts: Seit wann beschäftigt Sie die Marktwirtschaft?

Schlingensief: 1976 sah ich mit meinem Vater im Lions Club Joseph Beuys. Er sprach über Marktwirtschaft, und am Ende sagte er: «Dieses Gesellschaftssystem ist in sieben Jahren komplett zerstört.» Vor zwei Jahren fragte ich meinen Vater, ob er sich noch daran erinnere. Er hat sich den Termin jedes Jahr im Kalender nachgetragen, sieben Jahre lang. Mein Vater hatte offenbar einen Zweifel: «Es könnte ja sein.» Und dieser Zweifel ist interessant.

Facts: Aber an Beuys zweifeln Sie nicht.

Schlingensief: Wenn ich mich Beuys als Jünger verschreiben würde, würde ich mich fragen, ob ich nicht zu befangen wäre und noch etwas Eigenes produzieren könnte. Den Jüngern Jesu Christi ist das passiert.

Facts: Sie glauben an Gott?

Schlingensief: Ich bin Katholik, besuche aber keine Gottesdienste.

Facts: Aber Sie sind nicht ausgetreten?

Schlingensief: Nein, ich zahle weiter. Mir hat es geholfen, in Kirchen zu gehen, wenn es mir dreckig ging. Ich brauche diese Möglichkeiten. Im Theater habe ich kein Abonnement, aber ich zahle mein Abonnement in der Kirche. Ich war zwölf Jahre Messdiener, da kann man ganz schwer Abschied nehmen.

Facts: Die Kirche als Jugendtrauma?

Schlingensief: Ich habe heute noch Flugängste und muss immer vor dem Fliegen beten. Meine Freundin ist übrigens auch katholisch. Als ich das erfahren habe, habe ich mich gefreut. Ich war mal mit einer Protestantin zusammen, die war sehr puritanisch und wollte mir immer erklären, wie man Socken wäscht.

Facts: Macht Ihnen das «Hamlet»-Projekt auch Angst?
Schlingensief: Im «Hamlet» steckt eine permanente Angst. Ich suche natürlich im Stoff nach Parallelen zu meinem Leben. Deshalb fasziniert mich der «Hamlet»-Stoff so sehr. Die Angst von Hamlet kommt aus dieser Unentschiedenheit: Auf der einen Seite will er jemanden anklagen, auf der anderen Seite kann er es nicht so recht. In vielen steckt ein bisschen Hamlet. Viele können nicht mehr handeln, weil man sie zu sehr verletzt hat.

Facts: Bringen Sie mit Ihren Neonazis als Schauspieltruppe die Angst auf die Bühne?

Schlingensief: Es sind Skins, die aussteigen wollen. Wenn die dann wieder in ihren Kreisen auftauchen, kriegen sie Probleme. Das macht mir ein bisschen Angst. Denen müssen wir eine neue Identität verschaffen. Ach, da kommt ja Karl Dall.

Facts: Wie bitte?

Schlingensief: Schauen Sie den Herrn dort, der gerade zur Tür hereinkommt. Der sieht so aus wie Dall in hundert Jahren. Der könnte den Geist spielen.

Facts: Wirklich?

Schlingensief: Nein, aber er sieht so aus.

Facts: Fragen Sie ihn doch.

Schlingensief: Hallo! (Er steht auf und verhandelt im Foyer mit dem Mann. Nach einer Weile kommt Schlingensief zurück.)

Facts: Und?

Schlingensief: Ein Taxichauffeur. Er will nicht.

Facts: Schade. Fanden Sie die Neonazis auch einfach so zwischen Tür und Angel?

Schlingensief: Die Neonazis werde ich aus Deutschland herholen. Ich kann mich allerdings mit dem Raus-Projekt der Bundesregierung, die pro aussteigewilligen Neonazi 150 000 Mark aufwendet, nicht voll identifizieren. Denn wenn man die Skins darauf reduziert und sagt, das sind so Wesen, die ausser Rand und Band sind und nur noch «Heil Hitler!» rufen wollen, dann fehlt mir der emotionale Kontakt zu diesen Leuten.

Facts: Wieso behaupten Sie bei öffentlichen Auftritten, dass es in der Schweiz keine Neonazis gebe?

Schlingensief: Das muss ich ja erst mal behaupten. Dazu importiere ich Nazis. Sie sollen in einer nazifreien Zone aufwachsen, wo es gar keine Probleme gibt. Wo es auch kein Nazigold gibt.

Facts: Das klingt zynisch.

Schlingensief: Ich bin zynisch: zu romantisch, zu glaubwürdig, zu glaubhaft, zu unglaubwürdig, zu blöd - alles mit «zu» wie in dem Wort Zukunft. Hier kann sogar der Flick sein Museum eröffnen, ohne etwas an die Zwangsarbeiter von damals zu zahlen. Dann denke ich: Was für eine wunderbare Gegend! Die Schweizer sind schon freundlich. Aber ich würde ihnen zutrauen, dass sie in zwei Minuten umschwenken und mir voll in die Fresse hauen.

Facts: Misstrauen Sie den Schweizern?

Schlingensief: Nicht allen, das darf man nicht pauschalisieren. Die Schweiz ist ein Zufluchtsort, gleichzeitig ist sie die Geldwaschanlage Nummer eins.

Facts: Was machen die Neonazis hier, wenn sie nicht auf der Bühne stehen?

Schlingensief: Ich will mit den Skins zur SVP gehen, mit ihnen in einem guten Restaurant essen. Wir werden in Schulen fahren und in Einkaufszonen Flugblätter verteilen. Ich werde ein Verbot der SVP fordern und eine staatsanwaltliche Untersuchung des ZSC. Immerhin sitzen da führende SVPler im Vorstand. Wir werden die 14- bis 16-Jährigen auffordern, aus der rechten Szene auszusteigen. Da kommt Marktwirtschaft rein. Wir werden Medikamente anbieten, Psychopharmaka, die man bestellen kann. Prozac für die Nazis und für die, die aussteigen wollen, damit sie mit den Schmerzen besser fertig werden.

Facts: Dann wird der Prozac-Konsum in den nächsten Monaten steigen.

Schlingensief: Sicher. Wir sind hochgradig marktwirtschaftlich organisiert. Ich habe selber Management-Vorträge gehalten und Management-Training betrieben. Hier bei dieser monströsen Schiffbauhalle, fragen Sie mich nicht, was hinter der Kulisse für Probleme zu bewältigen sind. Das ist nach aussen alles wunderbar, aber so ein Tanker muss auch organisiert werden, und da bin ich dann gerne wieder als Management-Trainer dabei.

Facts: Sie lehren den Zürcher Theaterdirektor Marthaler das Management?

Schlingensief: Nein, ich mache der Direktionsetage nur manchmal Vorschläge, wenn ich sehe, was bei unserer Produktion besser sein könnte. Das ist ein ganz normaler Vorgang.

Facts: Welche Vorschläge konkret?

Schlingensief: Dass sie einen Chefmanager anstellen sollen. Und sie sollen an die Börse gehen.

Facts: Ihr eigener Marktwert ist in letzter Zeit ja auch gestiegen.

Schlingensief: Ja, jetzt klopfen auch renommierte Theater an, zum Glück auch aus dem Ausland. Aber schöner wäre es, weitere Projekte finanziell etwas ungebundener zu organisieren und nicht in Apparaten der
Kulturdinosaurier zu verschwinden.

Facts: Gerade eben wurde Ihr Stück zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen. Jetzt gehören Sie auch zu den Dinosauriern.

Schlingensief: Mir wäre das alternative Theater-Festival in Frankfurt unangenehmer, weil ich selber noch die Reise zahlen müsste. Nach der Pressemeldung über die Einladung nach Berlin kam es zu Irritationen, weil noch niemals ein Stück von der superkonservativen Jury eingeladen wurde, ohne dass sie es vorher gesehen hat. Ihr Pech.

Facts: Sie machten Filme, wurden beinahe Politiker, jetzt sind Sie am Theater. Wollen Sie überall mitmischen?

Schlingensief: Eine Vereinnahmung von nur einer Seite wäre für mich tödlich. Das ist ein Riesenglück, eine FAZ-Kolumne zu schreiben und bei Suhrkamp ein Buch zu machen, am Theater weiterzuarbeiten, Filme zu planen, ein Hörspiel zu machen.

Facts: FAZ, Suhrkamp, Schauspielhaus: Sie stützen sich auf etablierte Säulen.

Schlingensief: Das ist schwerer, als bei gleich gesinnten Menschen zu arbeiten. Ich brauche Spannungsfelder. Als ich bei Castorf anfing, konnte ich meine ersten beiden Stücke nur machen, weil ich auf die Bühne hochgefahren bin und geschrien habe: «Castorf zensiert mein Stück!» Er wollte nämlich, dass ich einen grauenhaften Aktionsfilm von 1962, in dem eine Katze bei lebendigem Leib geschlachtet wird, aus dem Stück rausnehme - seine Frau hatte gekotzt.

Facts: Filmer, Politiker, Regisseur: Irgendwann wird Schlingensief auf eine Rolle fixiert. Und dann ist er tot.

Schlingensief: Ich war öfter tot, als Sie glauben. Tot sein hält jung! Zum Beispiel bei meiner Partei Chance 2000. Da hiess es: «Mach du mal, wir sitzen hier und rufen «Christoph! Christoph!».» Das war ein ziemlich toter Punkt. Seitdem versuche ich, Aktionen zu machen, die auch ohne mich möglich sind. So wie in Wien bei der «Big Brother»-Aktion «Ausländer raus!».

Facts: Da liessen Sie sich auch vertreten.

Schlingensief: Zum Teil, ja.

Facts: Durch ein Double.

Schlingensief: Ja.

Facts: Wie ein Star.

Schlingensief: Sie sprachen hier auch mit meinem Double.

© Facts; 2001-04-19;

Seite 146; Nummer 16

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