NAZI~LINE DIE PROBENTAGEBUCH von Peter Kern

Lass uns ernst sein in Zürich

Wie Christoph Schlingensief in der Schweiz den "Hamlet" klassisch inszeniert - und nebenbei aus Neonazis gute Menschen machen will. Ein Proben-Tagebuch des Schauspielers Peter Kern. Keith Harings geschwungene Linien, Regenwürmern gleich, im Hintergrund des Kölner Fernsehstudios, davor ein Oberhausener Junge, mit Bildschirmpräsenz. Mit dumpfer Stimme erzählt er vom Ernst des Lebens, seinen 40 Lenzen im Denken und Leiden und seinen gelangweilten Spermien, die sich weigern zu befruchten. Am lautesten lacht der Gastgeber Alfred Biolek.
Karl Dall zeigt Sympathie für Schlingensief - als Dankeschön bekommt er das Angebot, den Geist zu spielen.

Angelehnt an das Nazi-Aussteigerprogramm von Innenminister Schily, will Schlingensief, erzählt er in der Sendung, in Zürich Skinheads zu Schauspielern ausbilden, in Kostüme stecken und Shakespeare sprechen lassen: Sie sollen die "Mausefalle" spielen, die berühmte Schauspielerszene in "Hamlet". Dafür werden die Skinheads in den besten Hotels wohnen und in die Börse geführt. Bioleks Talkrunde lacht verhalten. Schlingensiefs Einsicht, vielleicht konservativ zu sein, bringt ihm immerhin die Sympathie von Karl Dall ein, der als Dankeschön angeboten bekommt, den Geist zu spielen. Leider lehnt er ab.

   

Die schneebedeckten Berge über dem Zürichsee harren geduldig auf das, was da so terribel kommen mag. Der Frühling in der Schweiz scheint ein Frühling für Hitler zu werden. So glaubt es die SVP, eine linkisch-rechte Partei, und hat angekündigt, Schlingensiefs "Hamlet" verbieten zu lassen.

Er ist noch nicht angekommen in der "nazifreien" Schweiz, der Apothekersohn Schlingensief, mit den Wehwehchen, die jeden Rebellen plagen. Schmerztherapie am Zürcher Schauspielhaus: Für den Vergiftungsschmerz ist Irm Hermann angereist und übt sich in der Rolle der Königin. Im Tötungsschmerz versucht sich Sebastian Rudolph ("Manta - der Film"), um als Hamlet therapiert zu werden, während alle anderen Patienten Schmerzstufen zwischen Lust, Demut und Wahnsinn durchzumachen haben. Ich selbst soll den König Claudius spielen.
"Lass uns ernst sein in Zürich", sagte mir Schlingensief in Köln. Als Zugabe griff er sich schmerzvoll an seinen Nacken, der ihm stets signalisiert, was Haltung bedeutet. Christoph hat einen Bandscheibenvorfall.

 

 

Das Zürcher Schauspielhaus hinterlässt eher den Eindruck eines Bankhauses. Auf der Suche nach dem Bühneneingang begegnet mir Irm Hermann, meine Königin. Zuletzt standen wir 1972 als Juden - Herr und Frau Beifeld - in Fassbinders "Liliom"-Inszenierung auf Zadeks Bochumer Bühne. "Irm, leih mir einen Hunderter", bitte ich freundlich. "Ich muss mich noch bei der Ausländerpolizei anmelden", sagt Irm. "Ein Star lässt anmelden", antworte ich und erhalte sofort den Hunderter, mit einem typischen Hermann-Lächeln zwischen Scham und Wehmut

 

 
Das Motto der Aufführung heißt "Ernst". Um es zu testen, lädt unser Spielführer Antje Vollmer, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, ein, die zufällig auf Lesereise in Zürich ist. "Welch ein Augenblick, das miterleben zu dürfen", sagt sie ehrfürchtig.

Was sie gesehen hat: Schlingensief überraschte uns mit einem Mitschnitt der "Hamlet"-Aufführung von Gustaf Gründgens 1963. Maximilian Schell als Hamlet dröhnte, schmachtete sich durch den Text. Schlingensiefs "Ernst" und Vollmers "Ehrfurcht" gipfeln in der Freude, den Text der Aufnahme synchron von den anwesenden Schauspielern mitgesprochen und mitgespielt zu sehen. Da passiert es manchmal, dass sich der Text des "Hörspiels" mit dem gesprochenen Text der Zürcher Schauspieler kreuzt, was von Frau Vollmer mit Jubel und Lob gedankt wurde. Ich bin ratlos. Was ein Leben lang mit Verachtung dem Pathos zugeordnet wurde, soll plötzlich neu gewertet werden?
   
Das Telefon hält nicht mehr still am Schauspielhaus. Die Nazis kommen. Sie wollen alle Schauspieler werden. Derweil wird weiter probiert. Hamlet nimmt seine Ophelia (Bibiana Beglau) und wirft sie brutal zu Boden, dann stürzt er sich auf die Königin, ein langer Kuss, ein Zucken durch Irm Hermanns Körper, als wolle sie sagen: "Kern, zahle deine Schulden zurück."
   
Elfriede Jelinek ist da und monologisiert vom unfertigen Menschen. Die Uraufführung ihres Stücks "Macht nichts" inspiriert Schlingensief. Sich fest an die Idee klammernd, auch ein unfertiger Mensch sei ein Mensch, plant er sein Spektakel, glaubend an die Integration der Neonazis. "Bei ihrer Ankunft auf dem Zürcher Hauptbahnhof muss eine Kapelle spielen, und ein Stadtpolitiker soll den Nazis Blumen überreichen und eine freundliche Begrüßungsrede halten", plant Schlingensief. Die Organisation läuft, Plakate und Aufkleber werden gedruckt: "Hamlet sagt: Steigt aus." Schlingensief will zum Verbot der SVP aufrufen, ein Lautsprecherwagen wird es in die Zürcher Luft hinausschreien: "Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: Obs edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden, oder, sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden?"
   
"Nichts ist fremd, überflüssig oder zufällig in diesem Meisterstück des künstlerischen Tiefsinns", schrieb einst Friedrich Schlegel über "Hamlet". Heiner Müller antwortete: "Niemand versteht Shakespeare." Das macht Mut.
   
Wir versuchen es einmal ohne "Hörspiel". Kein hektisches Sprechen, keine unsäglichen Pausen, um synchron zu sein. Ich darf gestalten: Peter Kern spielt den König. Ich fühle meinen Körper, komme in Euphorie. "Das war zu viel, sprich tiefer und lass die Geste weg." Kaum zu glauben, aber das war eine Regieanweisung - von Christoph Schlingensief. Irgendetwas ist faul im Staate Schlingensief. Die Proben machen Freude, eine Harmonie macht sich breit, dass einem schlecht werden könnte. Keine Konflikte, keine Hürden, keine eitlen Ausbrüche, kein Geschrei.

Um 16 Uhr Treffen und Einkleiden für die Straßenaktion - Unterschriftensammlung für das Verbot der SVP. Die Kostümbildnerin hat rote Regenjacken und Kappen mit dem Emblem "www.naziline.com", Schlingensiefs Internet-Seite, schneidern lassen. Unser Informationstisch wird von vielen Journalisten belagert.

Schlingensief, erfahrener Agitator, ist in seinem Element. Bühne frei für seine Show. Im Hintergrund formieren sich Altnazis und werden immer lauter. "Geht nach Brandenburg, hier in der Schweiz habt ihr kein Recht auf politische Betätigung." Etwas ist faul im Staate Schweiz. Ein ziviler Beamter mit faltigem Gesicht und blauem Pullover unterbricht Schlingensief und nimmt ihn zur Seite. Die Menschenansammlung könnte der neutralen Schweiz gefährlich werden. 418 Unterschriften für das Verbot der SVP sammeln wir in einer Stunde. Der Mann von der Staatssicherheit wird deutlich. "Sie können keine Partei verbieten, sie können sie nur kritisieren."

Der Hospitant Tobias filmt unsere theatralische Darbietung. Plötzlich versucht eine ältere Dame im Lodenmantel, unterstützt von ihrem grauhaarigen Mann, dem Hospitanten (im unbezahlten Einsatz) die Kamera zu entreißen und schlägt auf ihn ein. Aus einem Ghettoblaster hören wir Musik aus Hitchcocks "Psycho".

Schlingensief ergreift das Mikrofon und schreit mit mächtiger Stimme (einige wollen Hitler gehört haben): "Macht die Straße frei!" Damit rettet er vielen Menschen aus allen Parteien, Ausländern und Behinderten das Leben.

Schlingensief schreit mit mächtiger Stimme (einige wollen Hitler gehört haben): "Macht die Straße frei!"
   

Schlingensief, auf Krawall frisiert, liest laut den Pressespiegel. Hier verzahnt sich, was lange geplant und mit großer Lust vorbereitet. Schilys Aussteigeraktion wird in den Zeitungen mit Schlingensiefs Neonazi-Einsatz in Zürich gekoppelt.

Schlingensiefs Provokation gesteuert durch das Bundesministerium des Innern? Die Telefone laufen heiß. Mehrere Pressekonferenzen in Berlin. Das Komitee des Berliner Theatertreffens rühmt Schlingensief als großen, wichtigen Aktionisten. Das BMI schaltet Anwälte ein. Schlingensiefs Internet-Seite soll sich von der Bundesregierung lossagen. Missverständnisse auf dem Höhepunkt künstlerischen Vermögens. Dieses Stück hätte niemand zu schreiben gewagt.

Die Schweizer Presse zwischen Sein oder Nicht- sein. Der "Tages-Anzeiger": "Es ist Systemkritik unter Totaleinsatz des Künstlers. Eine theatralische Sprechperformance, die alles zitiert, kritisiert, vernichtet und neu zusammenkleistert, was ihm zu den Themen Menschen, Macht und Marktwirtschaft durch den Sinn geht."
   

"Wo wohnt das Schwein?" Gewaltdrohungen nicht nur am Telefon von Schlingensief. Einer unserer Plakatkleber wird mit einer Gaspistole angeschossen und muss ins Krankenhaus. Techniker und Schauspieler grüßen nicht mehr. Die Straßenaktion ist heute am Bellevue-Platz geplant. Der Dramaturg bestellt noch rasch Polizeischutz. Schlingensief ist überrascht. Schon am dritten Tag erwarten uns fast 400 Menschen. Hier wächst eine Bewegung. Hamlet sucht seine Schauspieltruppe und findet sein Publikum.

Hooligans haben sich angekündigt. Die Schauspieler stehen dicht hinter Schlingensief, Schutz suchend. Irgendwie haben alle ein komisches Gefühl. So bemerken nur wenige, wie sich eine Gruppe von zehn Neonazis der Versammlung nähert.

Ich rufe einen von ihnen zu mir. Ich rede mit ihm ruhig, fast vertraut, erkläre ihm unser Vorhaben, beschreibe ihm die Bühne, das Stück, seine Rolle. Noch vor kurzer Zeit stand er aufgeblasen da, jetzt ist die Luft raus. Der Mann sucht nach seinen Gedanken, die Klischees entgleiten ihm, "hier steht auch nur ein Mensch", denke ich. Schlingensief spricht mit Charme und Würde, die Jungs sind irritiert.
Zurück im Theater, schockt uns eine E-Mail des Verwaltungsdirektors: "Morgen, Freitag, 20. April, ist Hitlers ,Geburtstag'. Zu diesem Anlass könnte es zu rechtsradikalen Übergriffen kommen, deshalb bitten wir alle Mitarbeiter, die Türen im ,Schiffbau' und ,Pfauen' verschlossen zu halten."

   

"Wir fordern die Streichung der Subvention für das Zürcher Schauspielhaus", schreit Schlingensief eine Gruppe von circa 1000 Menschen am Hauptbahnhof an. Unter den Zaungästen der Intendant Marthaler. Sein Lächeln ist eingefroren - schwer, diese Forderung als "Dadaismus" auszulegen.

Ein Casting von Menschen mit rechtsradikalem Gedankengut für die Szene der "Schauspieler" ist am Nachmittag angesetzt. Gestylt und gar lieb, in Kaschmir und mit Rolex-Uhren erscheinen die braunen "Monster". Sie sind bereit auszusteigen, der Karriere wegen. Akzeptanz und Einordnung in die Gesellschaft ist ihr Ziel.

Der "Tages-Anzeiger" ist heute gar nicht freundlich: "Man wird Schlingensief an seinem ,Hamlet' messen." Noch 20 Tage bis zur Premiere.

Premiere am 10.5. im Schauspielhaus Zürich (Pfauen). Auch am 12., 18., 29., 31.5. und im Juni, Tel. 0041/1/265 58 58.

Am 22.5. stellt Schlingensief sein Aussteigerprojekt im Rahmen des Theatertreffens in Berlin vor; Tel. 030/247 67 72.